Am 26. August fand das 20. Mitteldeutsche Energiegespräch/ Innovationsforum BioWasserstoff + BioKonversion Mitteldeutschland (digital) „Biokonversion in Mitteldeutschland – zentraler Baustein für eine postfossile, biobasierte Wirtschaft“ statt. Im Mittelpunkt stand das durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Innovationsforum BioH2BK Mitteldeutschland. Experten diskutierten Chancen sowie Perspektiven und zeigten praktische Beispiele auf. Marion Walsmann, Mitglied des Europäischen Parlaments, richtete zu Beginn der Veranstaltung Grußworte an die Teilnehmer. Aktuelles hat dies zum Anlass genommen, um mit Marion Walsmann über Europa, das Europäische Parlament, ihre Tätigkeiten und grünen Wasserstoff zu sprechen.

Marion Walsmann, Mitglied des Europäischen Parlaments, Foto:
Laurence Chaperon

Sehr geehrte Frau Walsmann, Sie bezeichnen sich selbst als leidenschaftliche Europäerin. Wodurch wird Ihre Leidenschaft begründet?

Eines hat mich nach der Friedlichen Revolution stark geprägt: Der Fall der Mauer 1989 war zugleich das Fanal für den Fall des Eisernen Vorhangs in Europa. Endlich Freiheit und Demokratie, endlich ein Europa ohne Grenzen! Ich persönlich habe die deutsche Einheit als Chance genutzt, mich als heimatverbundene Thüringerin und als überzeugte Europäerin auf allen politischen Ebenen zu engagieren: in der Kommunalpolitik als Stadträtin von Erfurt, in der Thüringer Landespolitik als Landtagsabgeordnete und Thüringer Europaministerin und aktuell als einzige Thüringer Europaabgeordnete. Thüringen ist meine Heimat, Deutschland mein Vaterland und Europa unsere einzig denkbare Zukunft. Wir feiern in diesen Tagen 30 Jahre Weimarer Dreieck. Ein Symbol dafür, dass sich die mitteldeutschen Länder als Brücke zu den freiheitlichen osteuropäischen Ländern verstehen, die schon Mitglied  in der EU sind oder die EU-Mitgliedschaft anstreben. Hier engagiere ich mich vor allem in Nordmazedonien.

Wie wichtig ist ein vereintes Europa und welche Gründe würden Sie interessierten Bürgern gegenüber anführen, warum wir die Europäische Union brauchen?

Warum wir die EU brauchen?

  • Weil sie uns seit über 70 Jahren Frieden in Europa garantiert, die längste Friedensperiode unseres Kontinents, die eine gemeinsame europäische Sicherheitspolitik gegenüber China, Russland und USA notwendig macht.
  • Weil die EU Garant für Demokratie, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte ist. Die aktuellen Herausforderungen in der Ukraine, in Belarus, in Afghanistan zeigen, wie wichtig das heute ist.
  • Weil sie den weltweit größten Binnenmarkt ohne Grenzen hat und uns wirtschaftlichen Erfolg, Wohlstand und Arbeitsplätze garantiert.
  • Weil sie für Einheit in Vielfalt steht, für eine supranationale demokratische Föderation als Bollwerk gegen Nationalismus und gegen Zentralismus.
  • Weil wir nur mit der EU den Klimaschutz, die Energiewende und die Nachhaltigkeit vorantreiben können
  • Weil wir nur mit der EU die Welt von morgen mitgestalten können.

Europa muss allerdings in zentralen politischen Fragen mit einer Stimme sprechen. Doch das Einstimmigkeitsprinzip hat sich nicht bewährt. Es lähmt die EU oft. Europa muss effizienter, handlungsfähiger werden.

Im Europaparlament vertreten Sie die Interessen Thüringens. Welche sind das?

Vor allem Sicherung der EU-Fördermittel, vor allem EFRE und ESF sowie ELER und gemeinsame Agrarpolitik. Aber auch persönliche Begegnung der Menschen in der Union, etwa durch Erasmus Plus. Klimaschutz, saubere nachhaltige und CO2-freie Wirtschaft und Energie, Umweltschutz, Digitalisierung und Globalisierung erfordern europaweite politische Antworten, etwa in der Klimafrage, der Nachhaltigkeit, der Energieversorgung, der Pandemiebekämpfung, um nur einige von vielen Beispielen zu nennen. All diese EU-Aktivitäten kommen auch meinem Wahlkreis Thüringen zugute.

Was sind ihrer Meinung nach die größten Herausforderungen unserer Zeit und warum?

Die größte Herausforderung unserer Zeit ist die Friedenssicherung. Ohne Frieden in Freiheit ist alles sinnlos. Zu Recht wurde 2012 die EU mit dem Friedensnobelpreis geehrt.

Weitere Herausforderungen, die nur europaweit, ja sogar vielfach nur weltweit gelöst werden können, sind z. B.: Klimaneutralität, Balance zwischen Ökonomie und Ökologie, Nachhaltigkeit. Aber auch die Migrationsfrage, die Sicherung der Außengrenzen der EU oder die grenzüberschreitende Kriminalitätsbekämpfung.

Hier brauchen wir eine bessere Zusammenarbeit und mehr Solidarität unter den EU-Mitgliedsstaaten.

Welche Rolle spielt das Thema Nachhaltigkeit innerhalb ihres politischen Wirkens?

Nachhaltigkeit spielt in meiner politischen Arbeit eine sehr große Rolle. Bei der nachhaltigen Entwicklung ist die EU gut aufgestellt. Sie ist Vorreiter bei der Umsetzung der Agenda 2020 der Vereinten Nationen. 2016 hat die EU-Kommission ihr strategisches Konzept für eine nachhaltige Zukunft Europas vorgelegt. Nachhaltigkeit wird hier als Leitlinie für alle Politikbereiche der EU definiert.

Das Europäische Parlament in Straßburg, Foto: Leonardo1982 auf Pixabay

Welche Themen liegen Ihnen persönlich besonders am Herzen?

Ich setze mich im Europaparlament weiterhin dafür ein, dass Frieden, Stabilität und Wohlstand auch künftig angesichts der Machtverschiebungen in der Welt zu den großen Errungenschaften der EU zählen werden. Soziale Gerechtigkeit, mehr Solidarität in der EU, Stabilität des Euro, das liegt mir besonders am Herzen. Der Recovery Fond darf die EU nicht in eine Schuldenunion verwandeln. Innovation statt Wiederherstellung überholter Strukturen ist nach der Pandemie angesagt. Ein starker Binnenmarkt und verlässliche Handelsbeziehungen sind auch für uns in Thüringen von besonderer Bedeutung. Digitalisierung und moderne Technologien sind das Know-how der Zukunft und unsere Unternehmen brauchen Unterstützung bei der Entwicklung neuer Produkte und Technologien.

Wie stark ist die Verbundenheit zu Ihrer Heimat?

Sehr stark. Ich nehme politisch eine Brückenfunktion zwischen meiner Thüringer Heimat und der EU wahr, mit vielen vor Ort-Terminen in ganz Thüringen, in Betrieben, Vereinen, Bildungseinrichtungen, Forschungsstätte. Als einzige Thüringer Europaabgeordnete umfasst mein Wahlkreis ganz Thüringen. Ich bin zudem weiterhin in der Kommunal- und Landespolitik aktiv. Und ich arbeite ehrenamtlich aktiv in vielen Vereinen und Wirtschaftsvereinigungen mit.

Sie sind ehrenamtlich in einigen Vereinen und Verbänden Ihrer Geburtsstadt Erfurt aktiv. Welche sind das? 

Unter anderem bin ich Landesvorsitzende des Weißen Rings und auch Vorsitzende des Arbeiter-Samariter-Bundes Mittelthüringen. Ich unterstütze darüber hinaus auch den Zoopark und Tierschutzvereine, die EGA und Vereine des Brauchtums.

Am 28.07.2020 haben Sie an der Vorstellung und Besichtigung der Jenaer Wasserstoff-Fabrik durch den BioEnergie Verbund e. V. teilgenommen. Welche Erkenntnisse haben Sie an diesem Tag für sich gewonnen?

Eigene Eindrücke …… Dieser Besuch hat mich in meinem Ziel bestärkt, die Kreislaufwirtschaft statt der Linearwirtschaft stärker als bisher voranzutreiben. Wir brauchen umgehend ein postfossiles, biobasiertes Wirtschaftssystem. Wasserstoff wird dabei zum Schlüsselelement in Industrie, Verkehr, im Gebäude- und Energiesektor werden, auch und gerade für schwer dekarbonisierbare Bereiche. Aber bitte mit dem Ziel: „Grüner Wasserstoff“!

V.l.n.r.: Olaf Luschnig, Aufsichtsratsvorsitzender Robert Boyle Institut e.V., Jena, Norbert Barthle, Staatssekretär im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), Dr. Stefan Kaufmann, Innovationsbeauftragter der Bundesregierung für „Grünen Wasserstoff“, Marion Walsmann  (MdEP), Johannes Selle (MdB), Thomas Gottweiss (MdL), Dr. Christian Huck, 1. Vorsitzender BioEnergie Verbund e.V., Jena. Foto: BioEnergie Verbund e. V.

Wie viel Potenzial sehen Sie in dieser Art der Herstellung von Wasserstoff für die Zukunft?

Der European Green Deal und die neue Wasserstofftechnologie der EU bilden die neue Wachstumsstrategie. Sie spielen eine Schlüsselrolle bei der Überwindung der wirtschaftlichen Pandemieschäden. Die EU hat hier beachtliche Potenziale.

Eine neue Studie für das 20. MDEG, in die ich einen Blick werfen konnte, zeigt, dass die mitteldeutschen Länder hohe Potenziale und zahlreiche Akteure für die Wasserstofftechnologie besitzen.

2020 stellte die Europäische Kommission ihre Wasserstoffstrategie vor («A hydrogen strategy for a climate-neutral Europe»). Ziel ist, bis 2050 die Nutzung von Wasserstoff auf breiter Ebene möglich zu machen.

Die EU- Kommission hat in ihrem Aufbauplan „Next Generation EU“ Wasserstoff als Investitionspriorität hervorgehoben, da er dazu beitragen kann, Wachstum und Krisenfestigkeit der Wirtschaft zu stärken, Arbeitsplätze in Europa zu schaffen und die weltweite Führungsrolle der EU zu konsolidieren. Das sehe ich genauso.

Die EU-Wasserstoffstrategie muss nun rasch umgesetzt werden. Diese wird der Erzeugung von sauberem Wasserstoff in Europa Auftrieb verleihen. Wasserstoff kann als Einsatz- oder Brennstoff sowie als Energieträger und zur Energiespeicherung genutzt werden und bietet somit vielfältige Möglichkeiten, die Treibhausgasemissionen in Industrie und Verkehr sowie bei der Stromerzeugung und im Gebäudesektor zu senken.

Dies sind die drei Schritte des Fahrplans für ein europäisches Wasserstoff-Ökosystem:

  • Bis 2024 werden wir in der EU die Installation von Elektrolyseuren für erneuerbaren Wasserstoff mit einer Leistung von mindestens 6 GW sowie die Erzeugung von bis zu 1 Mio. Tonnen an erneuerbarem Wasserstoff unterstützen.
  • Zwischen 2025 und 2030 muss Wasserstoff zu einem festen Bestandteil unseres integrierten Energiesystems werden. Dazu müssen wir Elektrolyseure für erneuerbaren Wasserstoff mit einer Leistung von mindestens 40 GW installieren, die in der EU bis zu 10 Mio. Tonnen erneuerbaren Wasserstoff erzeugen.
  • Ab 2030 wird erneuerbarer Wasserstoff in großem Umfang in allen Sektoren eingesetzt, in denen die CO2-Emissionen bisher nur schwer gesenkt werden können

Sie werden sich am 26. August zum 20. MDEG (digital) „Biokonversion in Mitteldeutschland – zentraler Baustein für eine postfossile, biobasierte Wirtschaft“ als Podiumsteilnehmerin in die Diskussion einbringen. Wie ordnen Sie die einzelnen Wasserstoffstrategien in Mitteldeutschland in die europäische Wasserstoffstrategie für ein klimaneutrales Europa ein?

Wir haben ja in Deutschland gleich auf drei Ebenen eine Wasserstoffstrategie, eine europäische, eine nationale (Bundesregierung) und vor allem mit der MDEG eine mitteldeutsche.

Die europäische Wasserstoffstrategie setzt auf Integration des Energiesystems. Das bedeutet, dass das System als ein Ganzes, unter Vernetzung verschiedener Energieträger, Infrastrukturen und Verbrauchssektoren, geplant und betrieben wird.

Dieses vernetzte und flexible System wird effizienter sein und die Kosten für die Gesellschaft senken. Dies bedeutet beispielsweise ein System, in dem der Strom, mit dem die Fahrzeuge in Europa angetrieben werden, aus den Solarpaneelen auf unseren Dächern stammt, während unsere Gebäude mit Wärme aus einer nahegelegenen Fabrik geheizt werden und die Fabrik wiederum mit sauberem Wasserstoff betrieben wird, der mit Offshore-Windenergie erzeugt wurde.

Diese Strategie ruht auf folgenden drei Säulen:

  • Erstens einem stärker „kreislauforientierten“ Energiesystem, dessen zentrales Bestandteil die Energieeffizienz ist. In der Strategie werden konkrete Maßnahmen zur praktischen Anwendung des Grundsatzes „Energieeffizienz an erster Stelle“ und zur wirksameren Nutzung lokaler Energiequellen in unseren Gebäuden oder Gemeinschaften aufgezeigt. Erhebliches Potenzial bieten die Wiederverwendung von Abwärme aus Industrieanlagen, Rechenzentren oder anderen Quellen sowie die Energiegewinnung aus Bioabfall oder Kläranlagen. Die „Renovierungswelle“ wird ein wichtiger Bestandteil dieser Reformen sein.
  • Zweitens einer stärkeren direkten Elektrifizierung der Endverbrauchssektoren. Da der Anteil erneuerbarer Energien im Stromsektor am höchsten ist, sollten wir nach Möglichkeit zunehmend Strom nutzen, beispielsweise für Wärmepumpen in Gebäuden, Elektrofahrzeuge im Verkehr oder Elektroöfen in bestimmten Industriezweigen. Ein Netz von einer Million Ladestationen für Elektrofahrzeuge wird neben dem Ausbau der Solar- und Windkraft zu den sichtbaren Ergebnissen zählen.
  • Für die Sektoren, in denen eine Elektrifizierung schwierig ist, wird in der Strategie die Nutzung saubererer Brennstoffe‚ z. B. von erneuerbarem Wasserstoff, nachhaltigen Biokraftstoffen und Biogas, vorgeschlagen. Die Kommission wird ein neues Klassifizierungs- und Zertifizierungssystem für erneuerbare und CO2-arme Brennstoffe vorschlagen.

Fazit: Für die EU hat erneuerbarer „grüner“ Wasserstoff aus Wind und Sonnenenergie Vorrang. Die EU setzt den Hebel zur Umsetzung an drei Punkten an:

  • Investitionsagenda
  • Rahmenbedingungen für grüne Wasserstoffwirtschaft
  • Forschungs- und Innovationsförderung für grünen Wasserstoff.

Geben Sie abschließend bitte anhand ihrer Aussage „Die Zukunft Thüringens liegt in einem starken Europa“ einen Ausblick für die nächsten 10 bis 20 Jahre. Wie sehen Sie Thüringen und Europa in den nächsten Jahren?

Ich bin kein Prophet. Aber als Realpolitiker bei allen Herausforderungen optimistisch für die nächste Dekade. Thüringen wird sich zu einem innovativen und wirtschaftlichen Kernland der EU entwickeln. Auch dank seiner Lage in der Mitte Europas und auf Grund seiner Brückenrolle zwischen West- und Osteuropa. Wirtschaftlich, technologisch, umweltpolitisch und kulturell wird Thüringen in der EU eine Spitzenposition einnehmen. An diesem Ziel arbeite ich nach besten Kräften mit.

Was wird in dieser Zeit passieren beziehungsweise was muss Ihrer Meinung nach in dieser Zeit passieren?

Die EU muss überzeugende Antworten auf die fragil gewordene Welt um uns, Europakritiker, auf populistisch-nationalstaatliche Tendenzen auch in einigen Mitgliedsländern geben. Entscheidend wird sein, dass die Vorteile der EU in den Köpfen und Herzen der Menschen in Europa fest verankert sind.

Marion Walsmann, Mitglied des Europäischen Parlaments, Foto:
Laurence Chaperon

Dies gilt vor allem für das Alleinstellungsmerkmal des föderalen Staatenbundes EU: Das Wertesystem, die Grundrechtscharta der EU, die angesichts Afghanistan und Weißrussland noch mehr Aktualität und Bedeutung erlangt hat.

Welche Rolle wird Europa weltweit spielen?

Ich hoffe und ich setze persönlich alles daran, dass die EU im Konzert der global agierenden großen Mächte China, Russland, USA, Indien und asiatischer Länder weltpolitisch ein größeres Gewicht haben wird. Ja, die EU muss endlich „weltpolitikfähig“ werden, in der Klimapolitik, in der Umweltpolitik, in der  Außenpolitik, in der Sicherheitspolitik, in der Migrationspolitik, in der Wirtschafts- und Handelspolitik. Ja, wir brauchen ein starkes Europa. Dazu gehört auch das Transatlantische Bündnis.

Mit der Next-Generation-EU wird die EU den Wandel selbst aktiv gestalten. Dies gilt vor allem für den notwendigen Digitalisierungsschub und neue Technologien. Dazu gehören auch „European Hydrogen Valleys“ und viele andere Innovationscluster in Europa für die Welt von morgen.

AS