19. April 2021, AS: Dr. Oliver Rottmann ist Geschäftsführender Vorstand des Kompetenzzentrums Öffentliche Wirtschaft, Infrastruktur und Daseinsvorsorge e.V. (KOWID) an der Universität Leipzig und Geschäftsführer des Kompetenzzentrums für kommunale Infrastruktur Sachsen (KOMKIS). Dazu ist er auch ein MDEG-Urgestein und Mitglied im neugegründeten Beirat des Mitteldeutschen Energiegespräches. Dr. Rottmann war von Anfang an Teil der Gesprächsreihe als Unterstützer und Diskussionsteilnehmer. Begleitend zu den MDEG hat er gemeinsam mit seinem KOWID-Team bisher 12 Studien angefertigt; die 13. entsteht derzeit im Ergebnis des 19. MDEG (digital). AKTUELLES hat die freundschaftliche Zusammenarbeit zum Anlass genommen, um mit Dr. Oliver Rottmann über seine Tätigkeit, die Daseinsvorsorge in Zeiten der Corona-Pandemie, die Digitalisierung und das MDEG zu sprechen.

(v.l.n.r.) Dr. Oliver Rottmann gemeinsam mit Rainer Otto und Mathias Hartung, Dezernent für Finanzen, Personal und Service, Landkreis Zwickau, Landratsamt, zum 16. MDEG im Club International in Leipzig, Foto: Lutz Zimmermann, unter www.lz-fotografie.de
Sehr geehrter Herr Dr. Rottmann, womit beschäftigen Sie und ihre Teams sich in den beiden Kompetenzzentren? Was sind ihre Aufgabenfelder?
Das KOWID ist ein interdisziplinäres angewandtes drittmittelfinanziertes gemeinnütziges Forschungszentrum, das sich mit seinen derzeit 17 Professuren und Instituten aus deutschen Hochschulen mit Fragen der Daseinsvorsorge, mit öffentlichen Infrastrukturen – auch an der Schnittstelle zur Privatwirtschaft – und den öffentlichen Finanzen beschäftigt. Das Zentrum verfügt zudem über einem Praxisbeirat aus Unternehmen, Verbänden und politischen Akteuren. Der Fokus liegt auf Deutschland, wir arbeiten aber auch für Institutionen im europäischen Ausland.
Das KOMKIS hingegen ist ein vom Freistaat Sachsen an der Universität Leipzig implementiertes und finanziertes rein kommunales Kompetenzzentrum, das sächsischen Kommunen kostenfrei als Informations-, Forschungs- und Beratungsplattform zur Verfügung steht.
Die bearbeiteten Themen umgrenzen hauptsächlich kommunale Beschaffungs- und Infrastrukturprozesse.
Aus einem Artikel von Ihnen vom 6. September 2020, veröffentlicht in der Süddeutschen Zeitung, geht hervor, dass die Corona-Pandemie die Debatte über die Daseinsvorsorge verschärft. Können Sie diese Verschärfung bitte erläutern?
Die optimale Daseinsvorsorge ist schon seit jeher Gegenstand zum Teil erhitzter und ideologisch geführter Diskurse. Besonders die Frage, ob die öffentliche Hand oder Privatunternehmen die Leistungen erbringen sollten, stand lange im Fokus. Ideologische Allgemeinplätze helfen hier meiner Meinung nach nicht weiter. Mit dem Übergang vom Modell des „produzierenden Staat“ (Gebietsmonopole) zum „Gewährleistungsstaat“ im Zuge der EU-Liberalisierung ist der Rahmen definiert. Die öffentliche Hand gewährleistet, dass die Daseinsvorsorge erbracht wird. Wer sie im Vollzug erbringt, entscheidet der Einzelfall. Vieles spricht dabei für öffentliche Unternehmen, die zum Teil auch über den Querverbund andere nicht kostendeckende kommunale Leistungen mit finanzieren müssen (zum Beispiel ÖPNV in der Fläche) und als kommunale Player vor Ort agieren. Aber auch private Unternehmen können mit Ihrem langjährigen Know-how und ihrer Effizienz eine gute Daseinsvorsorge anbieten. Wettbewerb und Daseinsvorsorge schließen sich nicht aus. Die Corona-Pandemie hat nunmehr gezeigt, welch‘ stabilisierende und für die Bürger wichtige Funktion die Daseinsvorsorge in einer global vernetzten Welt einnimmt. Zu nennen sind beispielhaft ein stabiles Gesundheitssystem und ein intakter ÖPNV. Die Erbringung der Daseinsvorsorge hat sich im Besonderen auch in Zeiten des Lockdowns bewährt. Es ist daher unbestritten, dass Leistungen der Daseinsvorsorge sozialpolitisch notwendig und ökonomisch sinnvoll sind. Auch hat sich die Funktionsweise im städtischen Leben im Zuge der Corona-Pandemie spürbar gewandelt. Digitale Leistungen als Daseinsvorsorge ergänzen und verdrängen analoge in zahlreichen Teilbereichen des Lebens: in Schule, Beruf und Wirtschaft sowie privatem Kontext. Das Verschwimmen der räumlichen Trennung von Wohnen, Arbeiten und Bildung, digitale Konversation statt physischer Besuche im Familien- und Freundeskreis illustrieren eine Blaupause für etwaige künftige digitale Lösungen. Zudem gewinnen Städte als Wohnort für den überwiegenden Teil der Weltbevölkerung seit Jahren an Bedeutung. Hier braucht es kommunale Strategien in der Daseinsvorsorge.
Sie haben sich bereits mehrfach mit dem Thema „Smart Cities“ beschäftigt. Wie „smart“ sollten Städte ihrer Meinung nach werden?
Smart-City-Ansätze können helfen, Städte effizienter, technologisch fortschrittlicher, umweltfreundlicher und sozial inklusiver zu gestalten. Damit können sie vernetzte, individuelle Lösungen auch für öffentliche Leistungen im Rahmen der Daseinsvorsorge bieten.
Allerdings verlieren sich Konzepte noch immer im Detail und lassen oft ein strategisches Gesamtkonzept vermissen. Sie können jedoch einen erheblichen Beitrag zur Bewältigung der urbanen Trends leisten, wenn sie als strategisches Gesamtkonzept angegangen werden. Um diese jedoch erfolgreich etablieren zu können ist es wichtig, mit Maßnahmen zu beginnen, die schnell eine breite öffentliche Wahrnehmung entfalten, diese aber in eine Gesamtstrategie einzubetten.
Notwendige „smarte“ Entwicklungsansätze gibt es zahlreiche: Energiewende und Klimaschutz, Urbanisierung, Digitalisierung oder der demographische Wandel seien hier beispielhaft genannt. Hier hat Deutschland noch Luft nach oben. Ein Beispiel: Die Basis einer Smart City-Strategie ist eine funktionierende Breitbandversorgung, nicht nur im urbanen Raum. Diese ist aber in Deutschland noch mitten im Aufbau.
Im Buch „BLACK OUT“ von Marc Elsberg brechen in Europa alle Stromnetze aufgrund eines Hackerangriffs auf die „Smart Meter“ zusammen, die Folgen sind verheerend. Auch wenn dies nur ein fiktiver Roman ist, so zeichnete er doch sehr gut ein Worst-Case-Szenario. Das Thema Sicherheit darf in der gesamten Diskussion nicht außer Acht gelassen werden…
Bei der Energieversorgung handelt es sich um eine sog. Kritische Infrastruktur. Damit rückt vor allem auch die Netzsicherheit als ein Teil der Versorgungssicherheit in den Fokus.
Unabhängig von Cyberangriffen ist und war das deutsche Stromnetz bis heute intakt. Die Ausfallzeiten lagen in Deutschland deutlich unter jenen im europäischen Ausland, im Durchschnitt bei nur wenigen Minuten pro Jahr. Dennoch hat die Gefahr von Hackerangriffen in den letzten Jahren zugenommen. Hier sind Sicherheitsvorkehrungen zu treffen und werden größtenteils auch getroffen, das Energienetz zu schützen. Notwendig sind dabei holistische Ansätze, die verschiedene (Sicherheits-)Ebenen fokussieren.

(v.l.n.r.) Rainer Otto, Michael Wübbels, Stv. Hauptgeschäftsführer des VKU gemeinsam mit Dr. Oliver Rottmann zum 7. MDEG auf Schloss Ettersburg, Foto: Barbara Neumann, unter www.foto-thueringen.de
Bei digitalen Angeboten kann man davon ausgehen, dass ältere Menschen teilweise nicht „abgeholt“ werden. Sei es beim Parkscheinautomat, der wie ein Computer funktioniert und den ein oder anderen zur Verzweiflung bringt oder das Verwenden von Apps, wobei ein Smartphone die Voraussetzung bildet. Was muss hier in Zukunft getan werden um digitale Angebote für jede Altersgruppe der Bevölkerung nutzbar zu machen?
Im Rahmen der notwendigen Digitalisierung oder speziell auch smarten Stadtlösungen hinkt Deutschland im internationalen Vergleich anderen Ländern hinterher. Das heißt nicht, dass bestehende Lösungen oder Angebote nicht komplex für bestimmte Personengruppen und stets nutzerfreundlich sind. Die Bürger im wahrsten Sinne des Wortes immer „mitzunehmen“ ist dabei zentral, sowohl in der Kommunikation als auch im Anwendungs- und Bedienfall. Jedoch betrifft dies die gegenwärtigen älteren Generationen, zukünftig werden auch dort digitale Anwendungen der Regelfall sein, da die jungen Generationen mit dieser Technik „aufwachsen“. Neben App-Lösungen sind daher übergangsweise noch klassische Instrumente wie der physische Ticketkauf oder die Schaffung einfacher digitaler Bedienformen erforderlich. Dennoch kann dies kein Grund sein, auf digitale Ansätze zu verzichten.

Dr. Oliver Rottmann im Gespräch mit Christina Otto, Foto: Jürgen Sendel, unter www.pictureblind.de
Sie fertigen wie bereits erwähnt regelmäßig Studien an. Gibt es eine Studie aus dem vergangenen Jahr die Sie unserer Community gern besonders empfehlen würden?
Unsere Studien zum kommunalen Finanzrahmen vor dem Hintergrund angespannter Haushaltslagen wurden intensiv diskutiert. Auch das Thema Urbane Mobilität – und hier speziell mögliche Geschäftsmodelle daraus für Versorgungsunternehmen – haben Niederschlag gefunden. Derzeit erstellen wir eine Studie zur Zukunft der Daseinsvorsorge im Rahmen einer zweistufigen Experten-Tiefenbefragung. Hier erwarten wir uns von den Experten und Entscheidern aus Wissenschaft, Politik, öffentlicher und privater Wirtschaft und ihren Verbänden sowie der Beratungs- und Finanzierungsseite wertvolle Erkenntnisse, wie die Daseinsvorsorge vor dem Hintergrund aktueller Fragen (Corona-Pandemie, Finanzierung, Digitalisierung, Erbringungsform oder rechtlichen Herausforderungen) ausgestaltet werden sollte, um zukunftsfest zu bleiben.
In diesem Jahr ist auch wieder eine gemeinsame Studie geplant. Thema wird angelehnt an das 19. Mitteldeutsche Energiegespräch „BioWasserstoff und BioKonversion“ sein. In der Vergangenheit wurden bereits mehrfach Studien begleitend zu den Mitteldeutschen Energiegesprächen angefertigt. Wird die neue Studie ein Kompetenzatlas analog der Studie zum 17. MDEG sein oder sogar eine Erweiterung?
Der ursprüngliche Gas-Atlas – eine Arbeit mit zahlreichen Institutionen aus dem mitteldeutschen Raum – zielte auf die Akteure, aber auch auf Chancen und Entwicklungen grüner Gase in Mitteldeutschland. Die Ergebnisse illustrierten, dass Mitteldeutschland bezüglich seiner Kompetenzen heterogen aufgestellt und im Bereich der Forschung und Entwicklung diversifiziert ist. Es ging beim Atlas darum, das Vernetzungspotenzial zwischen den einzelnen Akteuren aufzuzeigen und zu forcieren.
Diesen Ansatz möchten wir auf das Thema BioKonversion in Mitteldeutschland übertragen, da wir das Thema gemeinsam mit den MDEG als wichtigen Baustein für eine postfossile, biobasierte Wirtschaft erachten, wie auf den 19. MDEG bereits umfassend diskutiert wurde.
Sie haben das MDEG nicht nur mit wissenschaftlichen Studien begleitet, sondern sind seit dem 1. MDEG als Unterstützer dabei. Somit sind Sie ein „MDEG-Urgestein“. Wie entstand diese nunmehr 9-jährige Verbundenheit?
Wo lagen die Anfänge?
Die Anfänge liegen nunmehr bereits 9 Jahre zurück. Der Veranstalter der MDEG, Rainer Otto, und ich sind uns aus verschiedenen Begegnungen aus dessen Zeit als Geschäftsführer eines Kommunalkonzerns oder aus dem Wirtschaftsrat immer wieder über den Weg gelaufen. Als er mir seine Idee eines mitteldeutschen Energiegesprächsforums skizzierte, war ich sofort dabei. Nicht nur aus persönlich bestehender um im Laufe der Zeit enger Verbundenheit und Freundschaft, sondern besonders auch inhaltlich, da der mitteldeutsche Raum mit seiner Erzeugungsspezifika ein spannender Diskursraum ist.
Dies hat sich mehr als bestätigt, da von den MDEG zahlreiche Impulse weit über diesen Raum hinausgehen, was sich nicht nur durch die große und räumlich und inhaltlich heterogene Teilnehmerzahl ausdrückt.
Häufig waren wir mit den Gesprächsformaten, die teilweise auch sehr familiär geführt wurden, am Puls der Zeit. Sei es das MDEG zum Kohleausstieg, unmittelbar vor dem Beschluss, oder auch bereits sehr frühe Smart-City- oder E-Mobilitätsformate.
Eine Besonderheit war dann auch das 10. MDEG am Brandenburger Tor im Hause der Commerzbank.
So ist es nun auch eine Selbstverständlichkeit, dass Sie Mitglied im neugegründeten Beirat des MDEG sind und diesen mit Ihrem Fachwissen unterstützen werden. Was erhoffen Sie sich von dieser neuen Aufgabe?
Ich freue mich, in diesem Beirat mitwirken zu dürfen. Ich erhoffe mir von ihm einen interdisziplinären Austausch und vor allem Anstöße aus der Praxis, den Unternehmen, die für unsere angewandte Forschung zentral sind.
Beantworten Sie bitte abschließend die Frage: Auf welche Themen sollte die Politik, die Gesellschaft und die Wirtschaft zukünftig Ihrer Meinung nach unbedingt ihr Augenmerk legen?
Schlicht auf Zukunftsthemen, folglich eine Politik besonders auch für künftige Generationen, wie Bildung, Digitalisierung oder eine umweltfreundliche Industriepolitik ohne ideologische Scheuklappen. Diese vermisse ich in Deutschland viel zu sehr.
Nicht zuletzt die Corona-Pandemie zeigte, wie risikoscheu, antidigital und mit einer Vollversicherungsmentalität sowie einer Nullrisikostrategie Deutschland agiert. So lassen sich weder Pandemien, noch Zukunftsthemen angehen.
Ich erwarte von einem rohstoffarmen Industrieland, das sich seinen Wohlstand hart erarbeitet hat, auf Zukunftsthemen zu setzen – selbstverständlich mit sozialen und ökologischen Ansätzen –, aber keine Bedienung von Partikularinteressen oder mit Blick auf Wählerstimmen bestimmte Bevölkerungsgruppen bevorzugt zu behandeln. Hier bin ich mit Blick auf die Regierungsarbeit aktuell sehr ernüchtert, jedoch stirbt die Hoffnung bekanntermaßen zuletzt.

Die Unterstützer des 10. MDEG in Berlin, Foto: Jürgen Sendel, unter www.pictureblind.de
